Mythos Fachkräftemangel

Mythos Fachkräftemangel

Martin Gaedt bezweifelt in seinem Buch „Mythos Fachkräftemangel“, dass es einen Engpass an Bewerbern gibt. Woran liegt es dann, dass viele Unternehmen klagen, zu wenig Bewerbungen zu bekommen?

Herr Gaedt, Sie ziehen den Fachkräftemangel in Zweifel und schieben den schwarzen Peter den Unternehmen selbst zu. Wollen Sie wirklich behaupten, es gebe keine Engpässe bei Spezialisten für C/C++ oder Analogtechnik?

Dass es einen individuellen Fachkräftemangel gibt, bestreite ich gar nicht. Aber dass es einen strukturellen Mangel gibt, das bestreite ich. Der „Fachkräftemangel“ dient als Feigenblatt für fehlenden Mut zur Innovation. Schauen wir genauer hin: Häufig sind die Stellenbeschreibungen so überfrachtet mit Anforderungen an den potenziellen Kandidaten, dass die Zielgruppe extrem eingeengt wird und passende Kandidaten durch Raster fallen. 

Dazu kommt: Laut einer aktuellen Studie von Absolventa können sich über 80 Prozent aller Absolventen unter Stellenanzeigen-Floskeln nichts vorstellen. Kommt dann noch eine mangelnde Bekanntheit des Unternehmens dazu, kann es sein, dass keine einzige Bewerbung eintreffen wird.  Was würden Sie als Unternehmer tun, wenn wir nicht von Bewerbern, sondern von Kunden sprechen würden? Sie würden Marketing&Vertrieb intensivieren oder ggf. Ihr Angebot ändern, oder? Genau das passiert aber in den meisten Fällen im HR-Bereich nicht.   

Was in die Köpfe der Unternehmen hinein muss: Bewerber sind genauso wertvoll wie Kunden. Um bei den gewünschten Skills zu bleiben: Sie müssen Ihr Angebot dem Kunden, übersetzt also dem Bewerber, schmackhaft und passend machen.

Liegt Fachkräftemangel also Ihrer Meinung nach daran, dass Unternehmen zu engmaschig suchen? 

Engpass, engmaschig und engstirnig haben dieselben Vorsilben. Personalgewinnung ist ein Knochenjob, aber über Fachkräftemangel zu jammern statt innovativ zu werden, ist zu einfach. Viele nutzen die Klage über Fachkräftemangel als Feigenblatt für mangelnde Innovationfähigkeit.  

Dabei lohnt es manchmal, den Ausschnitt zu vergrößern: Es gibt zum Beispiel nicht mehr viel Uhrmacher, das ist schlecht für die verbliebenen Firmen aus der Zunft.  Man greift jetzt erfolgreich auf Zahntechniker zurück, seit ein Unternehmen irgendwann einmal über den Tellerrand blickte und feststellte, dass die Fertigkeiten etwa zu 95 Prozent übereinstimmen. 

Man muss offen sein für Unbequemes. Wenn man auf bestimmte Ingenieurspositionen keine deutschen Bewerber bekommt, dafür aber englischsprachige, dann muss man sich eben damit arrangieren und die Firmensprache ggf. anpassen.  

Wie wäre es denn optimal? 

Sicherlich nicht dadurch, dass man kopiert, was andere machen. Die Langeweile in der Bewerberansprache ist flächendeckend zu finden. Die Unkenntnis ist groß: Wer ist mein Konkurrent? Warum sollte man sich gerade bei uns bewerben? Erwarten Sie auf normierte Stellenanzeigen hochmotivierte Bewerber? Wer macht, was alle machen, bekommt, was alle bekommen. So einfach ist das.

Würden Unternehmen den Bewerber wie einen Kunden behandeln, dann würden Sie den Bewerber persönlich betreuen, ihn zurückrufen, und zwar innerhalb von 24 Stunden. Würden Sie Ihrem Kunden eine automatische Standard-Mail mit „Sehr geehrter Kunde“ schicken? Nein, oder? Viele HR-Abteilungen agieren aber so, als ob es Bewerber im Überfluss gäbe. Besonders fatal ist das für kleinere Unternehmen, die nicht den Bekanntheitsgrad eines Siemens oder Bosch haben. Sie sind am Markt nahezu unsichtbar. 

Haben Sie kein positives Beispiel? 

Ich gebe Ihnen ein innovatives Beispiel aus dem norddeutschen Flachland, wenngleich schon vier Jahre her.  Das Stahlbauunternehmen Butzkies aus Krempe, nördlich von Hamburg, hat festgestellt, dass überdurchschnittlich viele Stahlbauingenieure unter den Fans des weltweit größten Heavy Metal Open Airs in Wacken sind.  Einer mutigen Idee seiner Marketingagentur folgend, verloste Butzkies unter den eingehenden Bewerbern Eintrittskarten für Wacken inkl. Fanpackage. Nur zum Verständnis: Das mit 85.000 Teilnehmern weltweit angesagte Konzert ist in der Regel nach wenigen Stunden ausverkauft.

Oder das Gartenbau-Unternehmen Albrecht Bühler, der eine branchenübergreifende Initiative für Ausbildung gestartet hat und nun überregional davon profitiert. Wer ihr beitritt, erfüllt 12 Qualitätskriterien für gute Ausbildung, verpflichtet sich also einer Art Kodex und darf ein Siegel „Top Ausbildungsbetrieb“ tragen. Oder noch ein Beispiel:  Eine mir bekannte Firma hat einen Buchhalter gesucht und auf sehr ungewöhnlichem Weg gefunden: Man hat systematisch Rechnungen mit drei Cent zu viel bezahlt. Wem ist das aufgefallen? Den Buchhaltern! Der Buchhalter, der angerufen hat, hat eine Stelle angeboten bekommen. So braucht jede Branche und jeder Beruf passende und daher unterschiedliche Aktionen und Wege zum Bewerber. 

Dabei investieren doch inzwischen viele Unternehmen in Employer Branding. 

Was von der Idee her ja auch gut ist. Leider wird viel voneinander kopiert, und somit fällt das Alleinstellungsmerkmal und die Authentizität weg. Jedes Unternehmen ist anders, deshalb muss jedes Unternehmen auch individuell auftreten und in der Personalsuche eigene Wege gehen. 

Warum schließen sich nicht mehr Betriebe zusammen, zu einem Branchen-Kodex oder zur Empfehlung im Verbund? 

Das Grundproblem ist, dass HR häufig keine wirkliche Entscheidungsmacht hat. Und zusätzlich noch von den Fachabteilungen abhängig ist. Auch der Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Recruiting und Branchen-Branding wird in der Regel nicht entsprochen, selbst wenn sie unter HR vorhanden wäre. Obwohl es doch häufig unter den abgelehnten Bewerbern auch Silber- und Bronze-Kandidaten gibt, die Betriebe empfehlen könnten. Es gibt nichts Einfacheres als im Verbund von Branchen, Lieferketten oder Regionen, Bewerber zu empfehlen, die sich bereits beworben hatten. Im Recruiting wird zu wenig kooperiert.

Ihr Projekt „Cleverheads“ bietet die Möglichkeit, qualifizierte Bewerber, denen man absagen musste, an andere Unternehmen gegen Vermittlungsgebühr weiterzuempfehlen.  Warum nutzen nicht mehr Unternehmen diese Möglichkeit?  

Weil das Konkurrenzdenken dominiert. „Dann geht er ja zur Konkurrenz“, ist der meist genannte Einwand. „Eher hacke ich mir die Hände ab, als dass ich Bewerber empfehle“, so ein IHK-Präsident in Hessen. 

Dabei könnte ein Drittel aller Unternehmen zwei Drittel aller Betriebe mit Top-Bewerbern versorgen. Aber die wenigsten sind bereit zu teilen. Dabei stiege damit die Bewerberqualität im ganzen Netzwerk und abgelehnte Bewerber erführen durch die Weiterempfehlung Wertschätzung statt Ablehnung. Die Empfehlungsprämien würden sogar einen Teil der  Recruitingkosten refinanzieren. 

Zumal doch die abgesagten Bewerber zwangsläufig sowieso zur Konkurrenz gehen. 

Wir haben es mit alten, eingefahrenen Prozessen und einem Systemfehler zu tun, hinter dem sich viele lieber verstecken, als etwas Neues auszuprobieren. Daher steht für mich eines fest: Solange die meisten Top-Kandidaten quasi vom Hof gejagt werden, gibt es keinen Fachkräftemangel.

Das Gespräch führte Corinne Schindlbeck

(Leserinfo: Die Bücher „Mythos Fachkräftemangel“ und „Rock Your Idea“ von Martin Gaedt sind bei Wily und Murmann erschienen)



Kategorie: Branchennews

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